24.7.07

13. Juli / Råvejávrre 2

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Also weiter und fort.

Mühsam nur bewahrt man die Energie, ißt im Gehen, hastig, ein paar Stück Schokolade, eine Handvoll Nüsse, bleibt, um sich auszuruhen, immer nur einen Augenblick stehen, stützt die Last des Rucksackes auf anderen Muskelpartien ab, hinunter und weiter: über gebrochenen Stein, durch stockendes Wasser, über das erste auf Schwemmsandboden heraufwachsende Moor. Altschneereste sind im Lee verwitterter Schieferhügel geblieben, ein Grashang fällt steil zum Råvejávrre hinab. Und dort erst, in der sanften Sandstrandmulde am See, am Fuß von Felsenkuppen und Hügeln, hinter denen das Massiv des Fierro noch einmal quer zur Windrichtung hochsteigt, mäßigt sich das Toben, wird erträglicher, handhabbar.

Die Stille, die entsteht, wenn im Zelt endlich das Heulen und Dröhnen in den Ohren versiegt, ist fast greifbar. Ein winziger Raum der Ruhe verbleibt, man hört, wie die Wellen leise am grauschwarzen Sandstrand aufschlagen, und darum ist das scharfe Pfeifen einzelner Böen.


Kristallklares Wasser kräuselt sich sacht zu hauchzartem Wellenrand auf. Die unruhigen grauen Wasser des Sees beginnen im Licht der hervortretenden Sonne zu glitzern. Flüchtige Wärme entsteht und erlischt wieder im jagenden Wolkengrau, in tiefschwarz herunterziehenden Wolken.

Grüne Hänge und Felsen steigen im Halbkreis um einen hinauf. Auf dem flachen Sandboden der Bucht wächst Silene acaulis, lindgrüne Polster wölben sich üppig und blühen tiefrosa, bleichrosa herauf. Weiße Hornkrautblüten schimmern von der Seite herein. Knochenweiße, feinverzweigte Flechte durchwirkt grauen Sand, reicht fast bis zu dem wassergetränkten schwarz-dunklen Saum. Lappige Flechte bringt kleine Flächen von bronzener Farbe, von tiefdunklem Orange herein. Büschel von altem Süßgras flirren trocken und bleich, vermischen sich zu den Hügeln hin mit dem satten Dunkelgrün frisch getriebenen Grases.

Eiskalter Wind trifft einen, wenn man über den Sand die wenigen Schritte zum Ufer tut, hingekauert aus dem durchsichtig-klaren Wasser schöpft.

Auf der grauen Fläche des Sees glitzern Sonnenreflexe auf, scheint unversehens Saphirblau herauf. Ferne Gletscherberge dämmern im aufgerissenen Wolkengrau herauf, verschneite Gebirgsmassive treten hervor, das gewölbte Weiß eines nahen Nischengletschers leuchtet auf.

Dann sind wieder nur noch jagende Wolken da, ziehende schwarzdunkle Wolkenleiber, Sturmwind und Regen.

Im Nachhinein sind mir diese wenige Zeiten der Ruhe und Wärme sichtbar klar gegenwärtig, in prunkender Farbenpracht überdeutlich, und doch verschwindend klein im umfassenden Dröhnen und Brausen des grauschwarzen Wolkensturmes.

Die Rentiere sind heruntergekommen. Weibchen mit großen Geweihen, heranwachsende Kälber, fressen und ruhen, dahingeschmiegt in kleinen Gruppen, auf grünen Hängen zwischen schwarzen Massen von Fels.

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(Bergtundra, S. 106)




13. Juli / Råvejávrre 1

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Wind, Wind, Wind, Regen und Sturmwind. Der 3. Tag, an dem die Wucht des Windes so überhand genommen hat, alles andere beiseite drängt, brutal überstimmt.

Dröhnen und Brausen, das alle Täler füllt und über den Bergen tobt. Ziehendes Wolkengrau. Vom Wind getriebenes, in sich geschiedenes Wolkengrau. Dunkelgrau, Hellgrau, Lichtgrau und Nebelgrau. Sprühende Regenschauer. Schwerfallender Regen. Nadelfein vertriebenes Regennaß, nässender Nebel.

Über Frostbültenboden und Hangmoore hochgestiegen. Am Anfang waren noch aus ihren Verstecken zaghaft Goldregenpfeifer gekommen, wagten aber nicht hochzufliegen, duckten sich, goldfarben, schwarzweiß, zwischen den Bülten. Danach war nichts Warmblütiges mehr im Land, und auch die Pflanzen verschwanden. Aufgerissener Stein von altem Moränengeschiebe dominierte, sickerndes Wasser und jene besondere dunkle Leere des Bodens, die von spät abgetauten, fast noch präsenten Schneewächten zeugt. Das Wasser war so eiskalt, daß man es nur in kleinen Schlucken zu trinken wagte. Und über einem und um einen herum: Jagende Wolken, windvertriebenes niedriges Wolkengrau. Grau-schwarz aufziehende, fortgetriebene Wolkenleiber. Schneeberge, graugrünes Gletschereis, schwarz verregneter Fels. Und Wind, Wind, der stetig zunehmend auf die Paßhöhe drückt.

Selbst mitten im peitschenden Regen, in der dröhnenden Wucht des Windes, im keuchenden Atem, im Schweiß, gibt es jenen einen zeitlosen Moment der Ruhe und Klarheit, wo im Aufstieg die Erde unter den Füßen zu schwinden beginnt und sich von unten der Himmelsraum öffnet. Man wird von der Erwartung, der Gewißheit getragen und sieht unter sich Himmel und dann darin ausgestreckt eine andere, neugeborene Welt: lockende Offenbarung, lebendige Gegenwart, dort geht man hinein.

Das Wasser rieselt in die andere Richtung hinunter, auf zusammengetragenem Schwemmsand wächst zwischen den Steinen tiefgründiges Moos. Verlorene Splitter vom Steinbrech erscheinen im dunklen Rohboden, die erste vom Wasser aufgerissene Schlucht tut sich auf. Jetzt hier noch hinunter und über das Schneefeld dort wieder hinauf, dann kann man langsam anfangen, sich zu entspannen, der Ernst des Lebens liegt hinter einem, es bleibt nur noch das einfache Weiterspazieren: Auf der sanft geneigten Hochebene läßt es sich beliebig dahin und dorthin trödeln, und wo's am schönsten ist, kann man das Zelt aufschlagen und bleiben.
Statt dessen: der Wind. Er trifft einen, sobald man aus der Schlucht herauskommt, mit doppelt bösartiger Wucht, bricht über einen herein, zerrt an der Kleidung, heult in den Ohren, schlägt mit eiskaltem Regen auf einen ein. Hinter der nächsten aufsteigenden Gipfelkette ballen sich rabenschwarz Wolken, jagen herüber, herunter. Keine Möglichkeit, Pause zu machen, Atem zu schöpfen, umzudenken: Wenn man nur eine Minute in der kontinuierlichen Anstrengung nachläßt, reißt einem der Sturm alle Wärme aus dem Leib, und man verbleibt erzitternd im klatschnassen Regenzeug, im eiskalten Schweiß.


Herunter und weiter, man kommt zu weit rechts, fällt in Schieferschluchten, von deren Existenz man bisher keine Ahnung gehabt hatte, klettert fluchend wieder hinauf, quert etliche vom Regen vereiste Schneefelder, und mit Mühe nur erkennt man die Vorsprünge und Absätze wieder, auf denen man doch schon so oft gegangen ist. All die lieblich murmelnden Bäche, die tiefrosa Steinbrechblüten neben glitzerndem Schnee, die sonnendurchwärmten Kalksteinfelsen, die weiß-gelben Blütenräder der Dryas sind wie weggewischt, ausgelöscht von dem Regen, dem Wind.


Und man steht, verlassen und bloß, in jener Weite, die auch an den freundlichsten Sommertagen noch ehrfurchtgebietend, erschreckend ist.

Um einen herum, so weit man blicken kann und darüber hinaus, gibt es nichts anderes als gletscherbedeckte Massive, schneegebänderte Bergrücken, Felsengipfel und Steilwände, rund verwitterte Hügel und Hänge, Wasser von ersten Seen, Rohboden und Schnee.


Es ist eine Kargheit so groß, daß sie im ersten Moment blendet, aber dann wäre man gerne dort geblieben und kann doch nicht.

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(Bergtundra, S. 104)