27.7.07

"Inlandsbanan"

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Dann habe ich mich schon ein bißchen gewundert, wieso hier die Schaffner alle blond, weiblich und jung waren und Goldtresen an der Uniform hatten, aber der Zug dagegen war ganz normal, jedenfalls für das skandinavische Hinterland, die üblichen alten Nachkriegswagen, gemütlich und breit, abgestoßen und abgenutzt. Nur daß er eben so merkwürdig fuhr, immer wieder anhielt, die Fahrt verlangsamte, aber das klärte sich dann, als dazu eine Lautsprecherstimme begann, das zu erklären, was man nicht sah – also etwa daß diese Schotterstraße dort zu jenem Kraftwerk hinun­ter­führte, oder in diesen alten Holzbaracken einst die Eisenbahnarbeiter gewohnt hatten.

Und dann gab es da natürlich auch noch den Polarkreis. In diesem Fall war das ein weiterer Schotterweg, und daneben hatten Samen zwei Zelte aufgeschlagen und boten Souvenirs „made in Hongkong“ an. Ich weiß das so genau, weil hier die Touristen sogar aussteigen durften, um zu fotografieren und etwas zu kaufen. Und dann gab es noch eine Holzhütte, die war einmal ein Bahnhof gewesen, und noch ein verkommenes altes Holzhaus, da hatte einmal ein Heimatkünstler gewohnt...

Ja, es hatten die Verantwortlichen wirklich alles zusammengetra­gen, was auch nur annähernd als Attraktion herhalten konnte, und das muß keine geringe Mühe gewesen sein, denn es trifft sich nun einmal so, daß die Strecke der Eisenbahn hier durch eine wahrhaft von Gott verlassene – und dementsprechend elendig häßliche – Gegend führt.

Die Gletscher haben im ausflachenden Land den Schotter abgeladen und liegen lassen, darüber stockt Wasser, ist an Nährstoffen armes, eintöniges Moor, dürre Kiefern sind trübselig in der Weite verteilt. Das geht so, Kilometer um Kilometer, Meile um Meile:Schütterer Kiefernwald, wasserschwappendes Moor und Geröllfelder dazwischen. Man wünscht sich schon deswegen fort, und dazu noch stehen die Mücken dort, in dichten Schwärmen, und die Hitze lag erdrückend über dem Land, eine jener zum Meer vorgeschobenen kontinentalen Hochdruckzonen.

Neben mir saßen, massig, verschwitzt, schwedische Urlauber und aßen Kartoffelchips, Fleisch quoll über die kurzen Hosenbeine am Schenkel hervor, vom Nacken breitete sich Röte über das fettglänzende Gesicht.

Und dann gab es da auch noch die Rentiere. Was wäre Lappland ohne die Rentiere! Sie werden inzwischen, wie etwa die Kühe in Texas, in freilaufenden Herden gehalten, zugefüttert und einmal im Jahr zusammengetrieben und abgeschlachtet. Und jedesmal nun, wenn so ein Tier träge wiederkäuend in der Gegend herumstand und glotzte, fuhr der Zug noch einmal langsamer, und eine engelsgleiche Stimme flötete aus dem Lautsprecher „Reindeer to the left“, „Reindeer to the right“:

Ich war in der „Inlandsbahn“ gelandet. Dort gab es zwar keine Getränke zu kaufen, aber dafür wird den Fremden das Land gezeigt: „Reindeer to the right“.

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(Bergtundra, S. 57)